Ulrike Scharf ist Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales. Im Interview mit Anne Kraft vom Landesheimrat ermuntert sie Kinder und Jugendliche, die in Einrichtungen leben, ihr Recht auf Beteiligung wahrzunehmen. Ein Gespräch darüber, wie Bayern die Chancen für die junge Generation in der Politik verankert.
Zusammen leben, zusammen entscheiden
„Ihr habt eine Stimme – nutzt sie!“
Du kennst nicht alle Begriffe, die Jugendministerin Ulrike Scharf verwendet? Hier kannst du dir in Ruhe durchlesen, was gemeint ist:
Einrichtungen: Im Gespräch geht es um „stationäre Einrichtungen“. Das sind Häuser oder Wohnheime, in denen Kinder und Jugendliche wohnen, die nicht bei ihren Eltern leben können oder wollen. Etwa, weil die Eltern krank sind und es keine Verwandten gibt, die sich um die Kinder und Jugendlichen kümmern können.
Landesheimrat Bayern (LHR): Der LHR gibt Kindern und Jugendlichen aus stationären Einrichtungen eine Stimme. Er meldet sich zu allen Themen, die ihnen wichtig sind. Zum Beispiel wenn es ums Taschengeld, die Privatsphäre oder die WLAN-Ausstattung von Einrichtungen geht.
Landesjugendhilfeausschuss (LJHA): Der Landesjugendhilfeausschuss (LJHA) befasst sich mit der Kinder- und Jugendhilfe im Land Bayern. Das sind Leistungen und Angebote für Kinder, Jugendliche und ihre Familien – im Alltag (z.B. im Bereich der Jugendarbeit), aber auch in schwierigen Situationen. Der LJHA befasst sich auch mit Plätzen in Einrichtungen, etwa wenn Eltern sich nicht selbst um ihre Kinder kümmern können. In der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten viele Menschen zusammen: Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte, Heilerziehungspflegerinnen und Heilerziehungspfleger und Fachleute der Städte und Gemeinden. In Zusammenarbeit mit der Landesregierung entstehen im LJHA Ideen, wie die Kinder- und Jugendhilfe landesweit weiterentwickelt werden kann. Die Sichtweisen und Bedürfnisse junger Menschen in Bayern werden dabei immer miteinbezogen.
Seit 2023 ist auch der Landesheimrat im LJHA vertreten. Den Vorschlag machte das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales, um die Anliegen und Interessen von Heranwachsenden aus stationären Einrichtungen zu berücksichtigen und zu stärken.
Teilhabe: „Da will ich aber mitentscheiden!“ Sagst du das auch manchmal? Zum Beispiel, wenn es darum geht, wohin der Ausflug mit deinen Eltern am Wochenende geht oder wenn ein Motto für das Schulfest gesucht wird? Wenn du an Diskussionen teilnimmst oder dich an Entscheidungen beteiligst, nennt man das „Teilhabe“.
Inklusion: Mit Inklusion ist gemeint, dass alle Menschen von der Gesellschaft akzeptiert werden sollen, wie sie sind. Alle Menschen werden in ihrer Einzigartigkeit als gleichwertige und gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft gesehen. Ziel von Inklusion ist es, niemanden auszugrenzen oder auszuschließen. Es geht dabei unter anderem um sozial benachteiligte Gruppen wie Menschen mit Behinderung.
Menschen mit Behinderung selbst fragen, was sie wollen
Menschen mit Behinderung wissen selbst am besten, wo etwas verbessert werden kann. Deshalb arbeiten sie daran mit, die Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Oft ist es noch so, dass sie viel zu selten gefragt werden, was sie wollen – besonders dann, wenn sie jung sind.
Deutschland will die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) umsetzen – das steht so im Gesetz. Eine Konvention ist ein Übereinkommen, das von Menschen oder Staaten einvernehmlich eingehalten wird. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung wurde Ende 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) verabschiedet und trat 2008 international in Kraft. Sie setzt sich dafür ein, dass die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung aufhört. Auch der Freistaat Bayern stellt mit verschiedenen Maßnahmen in allen Lebensbereichen die Umsetzung der UN-BRK sicher. Der Bayerischen Staatsregierung ist das Thema wichtig, sie hat eine Monitoring-Stelle (den „Focal Point“) eingerichtet, die diese Umsetzung überwacht.
Bei der Konvention mitgemacht
Schon an der Entstehung der Konvention waren Menschen mit Behinderung weltweit beteiligt – als Vertreter der Vereinten Nationen, in Regierungsdelegationen und als Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen, wie etwa „handicap international“. Und auch bei der Umsetzung in Deutschland werden Menschen mit Behinderung einbezogen, etwa bei der Erstellung von Aktionsplänen auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene. Auch wenn schon viel geschafft ist, bleibt es eine Aufgabe in der Zukunft, an der weiteren Umsetzung der UN-BRK auch die Menschen zu beteiligen, die bisher aufgrund der Schwere ihrer Behinderung an Inklusionsprozessen selten mitwirken konnten. Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch ganz natürlich dazu gehört – unabhängig davon, wie du aussiehst, welche Sprache du sprichst oder ob du eine Behinderung hast.
Dich interessiert, wie es konkret gelingt, junge Leute mit Behinderung zu beteiligen? Ein Verein im oberfränkischen Ort Waischenfeld zeigt, wie es läuft.
Vorteile abbauen, selbst etwas verändern
Kennst du den Landesheimrat Bayern (LHR)? Er tritt ein für die Kinder und Jugendlichen, die in stationären Einrichtungen leben, also nicht zu Hause bei ihren Eltern. Im Video erfährst du, wer sich wie und mit welchen Themen im LHR für mehr Mitbestimmung einsetzt.
Möglichst selbstbestimmt
In Waischenfeld setzt sich der Verein „Wir sind alle gleich“ dafür ein, dass junge volljährige Menschen mit Behinderung ein schönes Wohnumfeld haben. Die Eltern von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Behinderung wollen ihren erwachsen gewordenen Kindern so viel Selbstbestimmung wie möglich einräumen.
Zwei wichtige Punkte für Menschen mit Behinderung als Expertinnen und Experten in eigener Sache sind Barrierefreiheit im Internet und der Bedarf an Wohnungen in einem barrierearmen Wohnumfeld. Laut der Förderinitiative „Aktion Mensch“, die mit vielen Projekten die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen abschaffen will, gibt es 700.000 Wohnungen in Deutschland, die Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen, 3,6 Millionen werden aber bis 2030 benötigt.
Eigene Vorstellungen verwirklichen
Der Verein „Wir sind alle gleich“ in Oberfranken arbeitet daran, jungen volljährigen Menschen mit Behinderung ein Zuhause nach ihren eigenen Vorstellungen zu bieten. Aufgrund ihrer besonderen Bedürfnisse kommen sie nicht allein klar, sie brauchen Unterstützung und Pflege. Die Eltern von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Behinderung wollen ihren erwachsen gewordenen Kindern so viel Selbstbestimmung wie möglich einräumen. Sie wollen eine Alternative zu „gängigen Wohnheimen“ anbieten.
Teilhabe am sozialen Leben
„Wir werden für 30 Menschen mit besonderen Bedürfnissen die Möglichkeit bieten, in Zwei-Zimmerapartments, verteilt auf mehrere kleinere und größere Häuser, ein Zuhause zu finden. Dort erfahren sie auch die Betreuung und Pflege, die erforderlich ist, um am sozialen Leben teilzuhaben“, beschreibt der Vorsitzende des Vereins, Claus Hempfling. Er hat eine 17-jährige Tochter und einen 20-jährigen Sohn und weiß, worauf es ihnen ankommt: „Selbstständigkeit, Selbstständigkeit, Selbstständigkeit.“ Der Verein geht auf die jungen Menschen zu und fragt, was ihnen wichtig ist. Als Antwort kommt dann zum Beispiel, „eine Küchenmaschine“.
Selbstständigeit ist zentraler Wunsch
„Diese Küchenmaschine steht sinnbildlich für Selbstständigkeit. Die jungen Leute wollen sich selbst ernähren können, wollen sich selbst etwas kochen können. Und weil der Überblick über drei Töpfe vielleicht zu kompliziert erscheint, ist die Küchenmaschine, die ansagt, was als nächstes passiert, ganz wichtig“, erläutert Claus Hempfling. Er hat beobachtet, dass Kinder und Jugendliche mit besonderen Fähigkeiten – das ist der Begriff, den er deutlich lieber verwendet als die übliche Bezeichnung Menschen mit Behinderung – oftmals in der Familie, in der Schule oder an ihren Arbeitsplätzen viel zu selten gefragt werden, was sie wollen. Und was wollen sie im eigenen Zuhause? Etwa die Türe zu machen können. Da soll nicht jeden Tag eine Reinigungskraft kommen, da soll auch mal ein T-Shirt drei Tage lang auf dem Boden liegen können.
Wie äußert jemand, der nicht sprechen kann, seine Wünsche? Es gibt mehr Möglichkeiten, als du denkst.
Mitbestimmung zu Hause
Bei Mitbestimmung und Teilhabe zu Hause sind natürlich alle Formen des Zusammenlebens gemeint. Neben den verschiedenen Eltern-Kinder-Konstellationen – beide Elternteile, zwei Mütter, zwei Väter, Stiefeltern, Adoptiveltern, alleinerziehender Vater, alleinerziehende Mutter und so weiter – existieren noch viele weitere Wohnformen: Es gibt auch Wohnformen in der stationären Jugendhilfe, wo Kinder und Jugendliche in Wohngruppen zusammenleben. Warum sie nicht bei den Eltern leben, kann viele verschiedene Gründe haben. Manchmal entscheiden sich Jugendliche sogar selbst dazu, das Elternhaus zu verlassen. Zuhause meint den Ort, wo Kinder und Jugendliche sich wohl und geborgen fühlen. Zuhause ist also dort, wo du so sein kannst, wie du bist. Egal wie du wohnst, Beteiligung ist überall möglich. Interesse?
Konstruktiv streiten, fair bleiben
Demokratie passiert nicht nur in der Wahlkabine, sondern auch tagtäglich zu Hause. Im vertrauten Umfeld trainierst du, wie du deine Meinung äußerst und du lernst, andere Auffassungen zu akzeptieren. Davon profitierst du dein Leben lang, unter anderem auch später im Job.
Hast du schon mal darüber nachgedacht, wie du zu Hause dein Recht auf Partizipation wahrnimmst? Im sozialen Zusammenleben wird Demokratie von Klein auf – quasi automatisch – trainiert. In deinem engsten Umfeld erlernst du wichtige Kompetenzen – zum Beispiel, einen Kompromiss zu finden, den konstruktiven Streit und natürlich Fairness.
Ein ständiges Aushandeln
Die Themenfelder haben sich im Laufe deines Lebens verändert: Als kleineres Kind ging es vielleicht um die Farbe deiner Schuhe, um die Wahl der Sendungen im Fernsehen und später dann darum, wie viel Zeit du am Mobiltelefon oder an der Spielkonsole verbringst. Vielleicht musst du noch über Ausgehzeiten verhandeln? Oder ist es bei euch ein Thema, wohin der gemeinsame Urlaub gehen soll. In den Süden ans Meer? In die Berge? Soll es denn überhaupt ein gemeinsamer Urlaub sein? Vielleicht geht es auch darum, dass du schon lieber allein mit deiner Clique verreisen willst.
Im vertrauten Kreis austesten, was geht
Jeder Mensch hat individuelle Meinungen, Wünsche, Träume und Interessen. Und jeder stellt eine individuelle Persönlichkeit dar, die sich entfalten können soll. Wenn unterschiedliche Perspektiven und individuelle Bedürfnisse aufeinandertreffen, müssen diese ausgehandelt werden. Im Familienkreis oder in deiner Wohngruppe kannst du Themen in vertrauter Umgebung aushandeln und auch testen, was funktioniert und was nicht. Gleichzeitig bauen sich Regeln auf, an die sich alle halten. So lernst du zu verhandeln und faire Kompromisse einzugehen.
Positives Familienklima in Deutschland
Und auch die Statistik bestätigt, dass Kinder und Jugendliche das Familienklima überwiegend als gute Umgebung bewerten, um unterschiedliche Perspektiven und Themen auszuhandeln: Zitate wie, „ich bin gerne mit meiner Familie zusammen“, oder „in unserer Familie können wir über alles sprechen“, machen das deutlich.
Der Datenreport des Statistischen Bundesamtes zu Familien und Lebensformen in der Bevölkerung aus dem Jahr 2021 hält das fest: Solltest du mehr darüber erfahren wollen, findest du auf der Seite des Statistischen Bundesamtes weitere Informationen.